Das Sterben beenden - an der Grenze von Belarus und Polen

Andrea Johlige

„Am Anfang dachten wir, wir helfen den Menschen einfach nur, inzwischen wissen wir, wir retten Leben.“ Die Frau, die diesen Satz sagt, ist um die 40 Jahre alt und lebt im Grenzgebiet von Polen zu Belarus. Sie hat eine Familie, einen Hof mit Hühnern, erzählt sie. Und dann sagt sie: „Ich habe jeden Tag das Risiko, verhaftet zu werden, wenn ich den Flüchtlingen im Wald helfe. Aber was ist dieses Risiko gegen das Risiko zu sterben?“ Im Laufe des Abends erzählt sie, wie sie seit Monaten jeden Tag alles dafür tut, dass den Geflüchteten geholfen wird, die im Bialowieza-Wald festsitzen. Sie will nicht, dass wir ihren Namen nennen oder etwas veröffentlichen, was sie identifizierbar macht, weil die Grenzpolizei nicht auf sie und ihre Aktivitäten aufmerksam werden soll.

Als Delegation von LINKEN Abgeordneten aus dem Europaparlament, dem Deutschen Bundestag und den Landtagen Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg sind wir an die Grenze von Polen und Belarus gereist und trafen dort einige Menschen wie sie. Menschen, die im Grenzgebiet wohnen und dafür kämpfen, dass andere im Bialowieza-Wald nicht sterben müssen.

Der Wald ist der letzte Urwald Europas. Er umfasst 1.500 Quadratkilometer und ist damit so groß wie der gesamte Landkreis Barnim. Er ist UNESCO-Welterbe und bietet dank der geringen Eingriffe durch den Menschen einzigartige Lebensbedingungen für viele Tierarten. Bis 2021 war der Wald vor allem wegen seiner großartigen Natur und den Auseinandersetzungen um den durch die polnische Regierung vorangetriebenen Holzeinschlag bekannt. Doch seit dem Herbst vergangenen Jahres bestimmen andere Schlagzeilen die Wahrnehmung des Bialowieza-Waldes: Er ist zur Falle für Geflüchtete geworden.

Nachdem Belarus die Visumsbestimmungen geändert hatte, eröffnete sich eine neue Fluchtroute nach Europa. Und so machten sich tausende Geflüchtete auf den Weg nach Belarus, um durch den Wald nach Polen, also in die Europäische Union zu gelangen. Die polnische Regierung reagiert bis heute mit Härte: Geflüchtete, die auf polnischem Gebiet aufgegriffen werden, werden nach Belarus zurückgetrieben. Zur Not mit Gewalt. Das wird Pushback genannt und ist europarechtlich eine illegale Praxis.

Und Belarus treibt die Flüchtlinge wieder nach Polen zurück. Auch mit Gewalt. Die Menschen sitzen also in der Falle. Sie können nicht in die eine und nicht in die andere Richtung; sie sind gezwungen, in diesem Wald auszuharren und irgendwie zu überleben. Und das ist gar nicht so leicht bei Minusgraden, ohne Lebensmittel und ohne Unterschlupf. Wenn die Kleidung nass wird, gibt es keine Chance, sie zu trocknen. Und so berichten die Helferinnen und Helfer, dass sie oftmals Menschen finden, denen die Kleidung am Körper festgefroren ist. Wie viele Menschen bereits gestorben sind, weiß niemand. 21 sind es nach offiziellen Angaben. In Wahrheit dürfte die Zahl weit höher liegen.

Und auch wie viele aktuell in dieser Falle stecken, kann niemand genau sagen. Laut Schätzungen befinden sich im Waldgebiet ca. 1.400 Menschen, 800 auf belarussischer und 600 auf polnischer Seite. Sie alle sind täglich vom Tod bedroht.

Die Menschen, die vor Ort helfen, sind ihre einzige Hoffnung. Sie bringen Kleidung, besorgen einen Unterschlupf in einem Safe House und versuchen die Menschen aus dem Waldgebiet herauszubringen. Dabei sind sie selbst einem starken Kriminalisierungsdruck ausgesetzt. Und doch machen sie weiter, denn sie wissen: Sie tun das, was eigentlich die Europäische Union und Polen tun müssten: Sie retten Menschenleben.

Was aber kann getan werden, um das Sterben im Bialowieza-Wald zu beenden? Als LINKE fordern wir die sofortige Evakuierung der Geflüchteten aus dieser Region. Auch nach Brandenburg – hier ist die Landesregierung in der Pflicht. Sowohl Belarus als auch Polen verüben täglich massive Menschenrechtsverletzungen. Es braucht den Druck auf die polnische Regierung, die illegalen Pushbacks sofort zu beenden und den Geflüchteten ein faires Asylverfahren zu garantieren. Polen muss sofort die pauschale Inhaftierung von Menschen beenden, die Asyl beantragen. Und Dublin-Abschiebungen nach Polen sind sofort zu beenden, denn eines ist bei der Reise klargeworden: Polen ist nicht sicher für Geflüchtete.